Epilepsie-Lehrerpaket

5.8.3 Epilepsien in der Literatur

Epilepsie im Medium Literatur

Das Verhältnis von Medizin und Literatur besitzt viele Facetten. Von besonderer Wichtigkeit ­ auch für die Interpretation der Epilepsie im Roman, Drama und Gedicht ­ sind die drei folgenden Funktionen:

  1. Medizin und Medizingeschichte tragen zur Interpretation literarischer Texte bei, sie geben sachliche und historische Hinweise zum Verständnis von Phänomenen der Gesundheit, Krankheit und Therapie in den Werken der Kunst (=literarische Funktion der Medizin).
  2. Aus den Schilderungen der Literatur lassen sich umgekehrt Medizin). Anregungen für die Medizin und den medizinischen Unterricht gewinnen, für die Begriffe von Gesundheit und Krankheit, für die Konzepte der Behandlung und Modelle der Arzt-Patienten- Beziehung, für die Stellung der Medizin in der Gesellschaft und Kultur (medizinische Funktion der Literatur).
  3. Literarische Darstellungen und Deutungen beeinflussen schließlich jenseits von Literaturwissenschaften und Medizin die allgemeine Einstellung der Öffentlichkeit und jedes einzelnen Menschen gegenüber dem Kranken und seiner Krankheit, gegenüber dem Arzt und seiner Therapie wie gegenüber dem Krankenhaus (=genuine Funktion der literarischen Medizin).

Die Beziehung zur Geschichte der Medizin und Historie der Krankheit kann bei der Interpretation literarischer Werke nicht übergangen werden ­ im Blick auf die Abhängigkeit wie Unabhängigkeit der Literatur von der Realität wie von der Medizin.

Unter den verschiedenen Krankheiten hat Epilepsie die Menschen seit jeher erschreckt und fasziniert. Die antike Bezeichnung ,,Heilige Krankheit" (=morbus sacer) gibt diesen Gefühlen und Vorstellungen einen zutreffenden Ausdruck. Entschieden setzt sich aber bereits die hippokratische Medizin für ein natürliches Verständnis dieses Leidens ein. Das Spektrum dieser Auffassungen findet sich auch in den belletristischen Texten jener Epoche. Zahlreich fielen die Erklärungsversuche des epileptischen Leidens in der Geschichte der Medizin aus, ebenso vielfältige Versuche der therapeutischen Intervention im Spektrum von Diätik, Medikament und operativem Eingriff wurden entwickelt. Diagnostik und Behandlung erlebten im 20. Jahrhundert wesentliche Fortschritte; viele Aufgaben stehen aber noch bevor. Der Umgang mit dem epileptischen Leiden stellt stets von neuem an den Arzt, den Betroffenen, seine Umwelt und die Gesellschaft hohe Anforderungen an Humanität und Solidarität.

Bis in die Gegenwart hat sich neben der naturwissenschaftlich- medizinischen Interpretation eine ganzheitliche Auffassung der Epilepsie vor allem in der Literatur und den Künsten erhalten. Ihre Darstellungen und Deutungen erinnern stets von neuem daran, dass Krankheit wie Gesund- heit, Geburt wie Sterben über Biologie, Soziologie und Psychologie hinaus mit Kosmologie, Anthropologie und für viele Menschen auch mit Metaphysik oder Transzendenz verbunden sind.

Die Künste beeinflussen das individuelle, öffentliche oder allgemeine Bewusstsein. Einstellungen und Verhalten werden von Erzählungen und Romanen, Gedichten und Dramen geprägt, können verbessert, können aber auch in falsche Richtungen gelenkt werden. Kunst kann zu einer großen Hilfe werden, kann aber ebenso irrige Auffassung über Krankheit und Therapie verbreiten. Aus den Künsten stammen die Symbole des Leidens und der Heilung, des Menschen in der Not und des Menschen als Helfer, ihre Schöpfungen sind Dokumente des Kulturniveaus und Leitbilder für den einzelnen Menschen wie für den einzelnen Menschen wie für die Gesellschaft und den Staat.

Epilepsie ist seit der Antike bis in die Gegenwart ein Thema von Romanen und Erzählungen wie ebenfalls von Dramen und Gedichten gewesen ­ in den äußeren Erscheinungen und ihren Ursachen, in Diagnostik und Therapie, in den Empfindungen und Vorstellungen des Kranken, in dem Verhältnis zwischen Arzt und Patient, in der Haltung der Umwelt und in symbolisch-geistigen Interpretationen. Der Bogen spannt sich von griechischen und römischen Autoren (Heraklit, Herodot, Aischylos, Plautus, Seneca) bis zu Schriftstellern der Gegenwart.

Epilepsie kann im Zentrum eines Romans stehen (Dostojewskij, Der Idiot, 1868/69; Frame, Wenn Eulen schrein, 1961; Morante, La Storia, 1974) oder eher am Rande vorkommen (Thomas Mann, Der Zauberberg, 1924; Queneau, Sonntag des Lebens, 1951; Lenz, Deutschstunde, 1968), kann in hoher Literatur wie im Kriminalroman oder in Selbsterfahrungsliteratur, in religiösen wie biographischen Texten thematisiert werden. Auch wenn Epilepsie wenig Raum im literarischen Geschehen einnimmt, können Erscheinungen und Sinn eindrucksvoll ausfallen.

Quelle: Dietrich von Engelhardt, in: ,,Das ist eine alte Krankheit", Stuttgart, New York (Schattauer Verlag) 2000, Seite 13 f.

Literarische Texte zu "Epilepsien"

Dies ist nur eine kleine Auswahl von Autoren und Titel, in denen ein oder mehrere Anfälle vorkommen. Sicherlich sind diese Bücher zum Teil auch als Schullektüre in unterschiedlichen Klassenstufen geeignet.

Weitere Titel sowie eine ausführliche Filmographie finden sich in: Engelhardt, Schneble, Wolf: "Das ist eine alte Krankheit" Epilepsie in der Literatur

Andres, Stefan: Der Knabe im Brunnen

Bernhardt, Thomas: Amras

Böll, Heinrich: Ansichten eines Clowns

Chandler, Raymond: Der große Schlaf

Christie, Agatha: In fast allen Kriminalromanen dieser Autorin werden Anfälle beschrieben

Cooke, Sue: Zerzaustes Käuzchen

Dahn, Felix: Ein Kampf in Rom

Dostojewskij, Fjodor: Der Idiot

Ders.: Die Brüder Karamasow

Drewitz, Ingeborg: Eingeschlossen

Eco, Umberto: Im Namen der Rose

Fallada, Hans: Altes Herz geht auf Reisen

Fichte, Hubert: Das Waisenhaus

Golding, William: Der Herr der Fliegen

Härtling, Peter: Das Windrad

Hustvedt, Siri: Die unsichtbare Frau

Lenz, Siegfried Deutschstunde

Mac Laverty, Bernard: Lamb, der Ausgeflogene

Mann, Thomas: Buddenbrooks

Ders.: Der Zauberberg

Ders.: Doktor Faustus

Ders.: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull

Maron, Monika: Animal triste

Merz, Klaus: Jakob schläft

Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften

Palmen, Cony: Die Gesetze

Quadflieg, Roswitha: Wer war Christoph Lau

Roth, Joseph: Hiob

Tikkanen, Märta: Aifos heißt Sofia

Walser, Martin: Die Verteidigung der Kindheit

Wilder, Thornton: Die Brücke von San Luis Rey

Wolf, Christa: Kassandra

Dies.: Medea

(zusammengestellt von: Margret Meyer-Brauns, Landesverband Epilepsie Bayern e.V.)

"Das ist eine alte Krankheit"

von Engelhardt, Schneble, Wolf, Schattauer Verlag Stuttgart, 2000

In diesem Buch finden Lehrer eine große Auswahl an besprochenen Büchern, in denen Haupt- oder Nebenfiguren an einer Epilepsie erkrankt sind. Die Autoren besprechen entweder einzelne Werke oder verschiedenste Geschichten aus Sicht einer Thematik. Zur Orientierung über die behandelten Werke hier das Inhaltsverzeichnis: