Epilepsie-Lehrerpaket

5.6.3 Gedichte von Menschen mit Epilepsien

Wir stellen hier Gedichte von zwei Frauen und einem unbekannten Dichter mit Epilepsien vor.

Elke Ruth Neuland wurde 1953 in Celle geboren und lebt heute mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in einem idyllischen kleinen Ort nahe der Stadt. Sie hat zwei Gedichtbände veröffentlicht.

Cornelia Riedlinger-Venzke wurde 1954 geboren und wuchs in Stuttgart auf. Sie gründete die Selbsthilfegruppe Epilepsie in Stuttgart, dann war sie Mitbegründerin der Deutschen Epilepsievereinigung und deren erste Vorsitzende bis zur ihrer Krebserkrankung, an der sie im Jahre 2000 verstarb.


Erfahrungen einer Epilepsiekranken

Kann man sagen, was man denkt?
Zeigen, was man fühlt?

Dir geht es gut - Du kennst den Ernst des Lebens nicht.
Dir geht es schlecht - man sieht es aber nicht an deinem Gesicht.
Du lachst so oft - das kann es doch nicht geben.
Du weinst - du brauchst eine positive Einstellung zum Leben.
Du bist fröhlich - unnormal, das wäre gelacht.
Du bist traurig - schon mal an den Tod gedacht?

Normal? Nein, das bist du nie.
Helfen tut nur die Gesprächstherapie.

Willst du nicht, dass man kann wühlen
In deinen Gedanken und Gefühlen

Dann
(be)denke - was du sagst!

Unbekannter Verfasser


Tempo

fährst du so schnell wie du sprichst
fragt Kollege H. und steigt zu mir ins Auto

schnell sein
Tempo halten
Zeit gewinnen

Söhne
Schule
Partner
FreundInnen
Frauentreff
Epilepsie
Kochen
Wäsche waschen
Auto zu Reparatur

und dann ganz schnell

sterben
trennen
rausschneiden
Ovarialkarzinom
Tumor
Krebs schnell gewachsen

für mich

danach

Zeit

viel Zeit

Wartezeit
Schmerzzeit
Besuchszeit
Trauerzeit
Grenzzeit
Heilzeit

und dann

Rede langsam ich kann dir nicht folgen
STOP

mein Leben
meine Strategien
geraten in Wanken
ich schenke mir Zeit
und bleibe stehen
und halte an

halte an

und tue nichts
höre die Vögel rufen
sehe das Gras wachsen

fühle die Haut meines Sohnes
gesunden

und ab und zu
bricht das Tempo mit mir durch

ich denke an H.
er hat erlebt
ich fahre nicht so schnell
wie ich rede
und fahre

Cornelia Riedlinger-Venzke


Gedichte von Elke Ruth Neuland

Aufklärung

Das Telefon klingelt
Mama
für dich
Mama
für dich
Mama
was ist los
Mama
stirbst du
Bitte sag doch was
Sekunden der Sprachlosigkeit
Tränen
So
Mein Kind
solltest du es nicht
erfahren

Aura als Chance

Von einer Minute
zur anderen
neben sich stehen
Die eigene Stimme
in weiter Ferne
als Echo hören
Minutenlange Kontrolle
vor dem Kontrollverlust
Chance
mit den Anfällen
zu leben

Angst

Ich habe schon als Kind
Angst
vor Gewittern gehabt
dann konnte ich mich
in den Armen meiner Mutter
verkriechen
Heute spielen sich Gewitter
in meinem Gehirn ab
und ich spüre die Angst von einst
doch keine offenen Arme
können mich von meiner Qual befreien
Ich habe Angst vor Blitz und Donnerschlag
vor Zittern und Speichelfluss
Ich habe Angst vor Katzenjammer
der mich stets nach einem Anfall
eingeholt hat
Ich habe Angst so alt zu werden
anders zu sein
als die
die immer aufrecht gehen
Ich habe Angst, nie mehr das zu finden
was ich auf meinem Anfallsweg
verloren habe
MICH

Selbsthilfegruppe

Mit der Epilepsie
fiel eine Tür ins Schloss
Keinem Besucher
gewährte ich Einlass
in meine verwundete Seele
Lediglich
Selbstbetroffene
haben eine winzige Öffnung entdeckt
durch die sie wie
Sonnenstrahlen
meine tiefe Verzweiflung
verdrängten
Nun hatte ich das Gefühl
auch in Phasen der Anormalität
normal zu leben
Die Tür sprang auf
und durch die Öffnungen
kam die Gewissheit zurück
frei zu sein
für schönes Leben

Eigensinn

Schwarz - weiß
kleinkariert zu sein
ist eine Katastrophe
Bunt kleinkariert zu werden
ist ein Anfang
Farbenfroh
die Welt zu sehen
ist Glück

Anfallsfreiheit

Jahre anfallsfrei
grenzenlose Hoffnung
Medikamentenreduktion
und alles scheint vorbei
durch ein
blutigschmeckendes
ERWACHEN

Sichtänderung

Sollten
Anfälle
Preis
ausgefüllten Lebens
bleiben
empfänge
ich sie
als Konsequenz
kreativen Daseins

Abhängigkeit

Das Leben
diktiert
Abhängigkeiten
in den
verschiedenen Formen
dagegen ist eine
ärztlich verordnete
Medikamentenabhängigkeit
eine Bagatelle
Warum unnötig dramatisieren
wenn die Einnahme der Tabletten
Hoffnung bedeutet
gesund zu werden