5.6 Erfahrungsberichte
5.6.1 Schilderungen Betroffener/Eltern
Ein Einschnitt in meinem Leben
Vor 8 Jahren, im April 1988, bekam unsere Tochter Sandra, damals 8 Jahre alt, ihren ersten epileptischen Anfall. Heute weiß ich, dass dieser Anfall der Höhepunkt eines bis dahin nicht einzuordnenden Krankheitsbildes war.
Circa 6 Wochen vorher bekam Sandra Probleme mit dem Kreislauf (Diagnose des Hausarztes). In nicht vorhersehbaren Abständen, unter körperlicher Belastung, aber auch in Ruhephasen, erlitt sie leichte Schwächeanfälle, von denen sie sich immer schnell wieder erholte. Nichts deutete auf eine ernsthafte Krankheit hin. Aus heutiger Sicht waren das Vorankündigungen eines Krampfanfalls.
Sandras ersten Anfall habe ich nicht miterlebt. Und dennoch war dieses Ereignis der "Einschnitt" in meinem Leben.
Als ich sie morgens in ihrem Zimmer fand, lag sie bewusstlos über einem Stuhl. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich nicht gewusst, was es bedeutet, in panische Angst zu geraten. Durch Schütteln und Schreien versuchte ich, Sandra aus ihrer Bewusstlosigkeit zu holen. Als ich endlich begriff, dass wir ärztliche Hilfe brauchten, zum Telefon stürzte, um den Notarzt zu rufen, war es unser Sohn Sven, damals 14 Jahre alt, der die Ruhe behielt und mir half, nicht den Überblick zu verlieren.
Als endlich der Notarzt kam und alles in seine Hände nahm, Sandra ins Krankenhaus transportiert wurde und ich dann an ihrem Bett saß und darauf wartete, dass sie wieder aufwachte, ahnte ich nicht im geringsten, wie lange ihre Krankheitsgeschichte andauern würde, und wie viele Ängste und Sorgen damit verbunden sind.
Diagnostiziert wurde damals ein zerebraler Krampfanfall. Von Epilepsie war noch nicht die Rede. Eine medikamentöse Einstellung wurde nicht vorgenommen. Wir waren glücklich, dass nach dem CT und den MRT-Untersuchungen nichts festgestellt wurde. Erst als 1991, ein halbes Jahr nach Sandras Einschulung auf ein Gymnasium, erneut Anfälle auftraten und diese sich in immer kürzeren Abständen wiederholten, stand die Diagnose nach vielen Untersuchungen fest: fokale Epilepsie im linken Schläfenlappen.
Leider ist Sandra bis heute nicht ganz anfallsfrei. Viele Medikamente haben wir ausgetestet - ohne den gewünschten Erfolg. Doch seit wir vor einem Jahr den Arzt wechselten, ist eine wesentliche Besserung eingetreten. Sandra hat großes Vertrauen zu ihrem jetzigen Arzt. Sie hat ihn gebeten, sie für eine präoperative Diagnostik anzumelden.
Nachtrag 1999:
Sandra ist heute 16 Jahre alt und besucht die 10. Klasse einer Realschule. Am 28. Mai 1997 wurde sie erfolgreich operiert, ist seitdem anfallsfrei und hat sich zu einem lebensfrohen und glücklichen Menschen entwickelt.
Name der Autorin ist der Redaktion bekannt
Ich habe natürlich gemerkt, dass irgendwie etwas nicht stimmte
Ich hab' natürlich auch schon gemerkt, dass irgendwas nicht stimmte. Also, ich hab' zum Beispiel in der Schule gesessen, mich gemeldet, und als ich drankam, hab' ich einfach nichts gesagt. Aber das hab' ich erst ein paar Sekunden später bemerkt, als der Lehrer schon gesagt hat: »Ja, mein Gott, warum sagst du denn nichts?« Und das waren Bruchteile von Sekunden, manchmal bei Gesprächen, wo ich gemerkt habe, mir fehlt irgendwie ein Stück. Manchmal konnte man das mit viel »Äh, äh, hm, hm« überbrücken. Dann hatte ich mich wieder gefangen.
Manchmal war es aber quasi eine halbe Minute oder zwanzig Sekunden, was innerhalb eines Gespräches ja relativ lange ist. Da war ich wie ausgeschaltet. Mir fehlte ein Stück, und ich konnte mir das nicht erklären. Ich versuchte das dann immer zu überspielen. Natürlich haben mir unheimlich viele Leute gesagt, ich würde ihnen nicht zuhören und ich wäre schusselig, weil ich alles vergessen würde. Und irgendwann habe ich selber gedacht, ich wäre eben völlig vergesslich und schusselig.
Ich habe auch sehr oft Sachen umgeworfen, auch bei anderen, wenn ich beim Mittagessen woanders war. Sachen sind mir einfach aus der Hand gefallen, plötzlich. Ich konnte mir das überhaupt nicht erklären. Aber irgendwann habe ich selber gedacht: So, du bist so blöd, du lässt halt alles fallen. Ja, mir haben manchmal auch Mitschüler gesagt: Was erzählst du da für einen Blödsinn. Weil ich manchmal einfach weitergeredet habe, ohne selber zu wissen, was ich redete. Oder viele haben mich angebrüllt: "Jetzt hör mir doch mal zu und guck nicht immer aus dem Fenster!" Meine Lehrer haben sich sehr oft beschwert, dass ich immer aus dem Fenster gucken würde. Und ich habe das eigentlich immer auf meine Schusseligkeit geschoben.
Nach dem ersten großen Anfall war für mich mein Leben eigentlich völlig verändert, von heute auf morgen, weil mir alles, das, was mir Spaß machte, verboten wurde - Schwimmen, Reiten, Radfahren. Ich durfte nicht mehr lange aufbleiben, weil Schlafentzug ganz schlecht ist für Epileptiker. Meine Mutter hatte permanent Angst, ich käme zu spät ins Bett. Teilweise durfte ich noch nicht einmal fernsehen, weil dieses Flimmern also auch einen Anfall hervorrufen könnte.
Es musste alles noch untersucht werden, was bei mir Anfälle auslöste. Das größte Problem war eigentlich, dass ich mich selbst nie habe sehen können bei einem Anfall und ich wusste eigentlich überhaupt nicht, was so ein Anfall war. Ich wusste nur, ich hatte irgendwas am Kopf oder im Kopf, im Gehirn. Ich hatte irgendeine Krankheit im Gehirn und das war, als wär' man halt nicht ganz richtig im Kopf. Das war so eine Gespensterkrankheit, die gab es nicht, weil man sein Gehirn nicht kennt. Und vielleicht hätte man viel früher - aber, man weiß auch nicht, wie das auf ein Kind wirkt - , aber vielleicht wäre es viel früher wichtig gewesen, einem Kind zu zeigen, was so ein Anfall ist.
Meite Beucker, Düsseldorf
Mit Musik in den ersten Anfall
Einen ersten Anfall konnten wir bei Gernot nicht ausmachen. Seit der Einschulung war er manchmal so komisch, so träumerisch. Seine, mit uns gut bekannte, Lehrerin meinte nur, so lang gewachsene dürre Kerlchen können schon mal träumen, um der Überforderung des Wachstums und der Schule zu entkommen.
Unsere andere Freundin, die mit Gernot schon Baby-Gymnastik gemacht hatte, meinte, dass auch sie so hochgeschossen war und noch selbst im Gymnasium ab und zu ohnmächtig umkippte. Irgend etwas Besonderes war also eigentlich nicht mit Gernot los.
Aber Gernots Kraft in der Schule reichte immer nur ganz knapp bis zu den Ferien. Noch mit zwölf Jahren legte er sich jeden Mittag ins Bett und schlief fest ein. Als Gernot acht Jahre alt war, und mein Mann aus beruflichen Gründen uns vorweg nach Bayern zog und nur noch am Wochenende nach Hause kam, wurde unser Sohn plötzlich ganz hysterisch. Bei kleinsten Unstimmigkeiten rannte er in sein Zimmer oder in das Spielhaus und schrie ganz entsetzlich.
Dagmar, seine anderthalb Jahre jüngere Schwester, und ich merkten nach der Schule beim Mittagessen, dass Gernot kurz nach unten sah und nicht ansprechbar war. Immer wenn wir dann "Ai, Gernot", sagten, guckte er schon hoch und meinte "Was?"
An einem Freitag im September 1990 spielte Gernot in der Musikschule beim Konzert in einem Quartett mit. Er spielte das Cello. Damit die Vorführung auch gut klappte, hatte ich mit ihm zu Hause kräftig geübt. Während des Konzerts schaute er plötzlich genau drei Takte zu Boden und verharrte in der Bewegung, er verrutschte nicht mit der Hand auf dem Steg und auch nicht mit dem Bogen. Nach drei Takten spielte er an der richtigen Stelle weiter! Der Cello-Lehrer merkte nichts. Auf meinem Schoß schlief mein Neffe und mein Herz blieb förmlich stehen.
Zu Hause am Klavier fand ich heraus, dass Gernot mindestens eine Bewusstseinspause von 23 Sekunden gehabt haben musste.
Bei einem Bierchen am nächsten Abend klärten wir mit unserem Hausarzt das weitere Vorgehen. Ein Neurologe in Limburg diagnostizierte am Montagmorgen eine klassische Absencen-Epilepsie "... wie Sie es sich sicherlich schon gedacht haben...." - hatte ich nicht! Er verschrieb ein Medikament. Der Kinderarzt im Kinderneurologischen Zentrum in Mainz empfahl, es unseren Karnickeln zum Fraß zu geben. Bei denen würde es auch keine Reaktion zeigen. Wir sollten uns gelegentlich einen Arzt an unserem neuen Wohnort in Regensburg suchen.
Gut, dass unser befreundeter Hausarzt ein Praktikum im Kinderneurologischen Zentrum in Mainz gemacht hatte und uns dort auch noch vor unserem Umzug nach Regensburg unterbringen konnte. Dort wurde Gernot innerhalb von drei Wochen auf Orfiril eingestellt und ist seitdem anfallsfrei. Gernot besuchte weiterhin ein Gymnasium und hat nun das Abitur.
Gernot hat noch lange gefragt, was er getan hat, wie er aussah. Die Absencen kamen ihm doch sehr obskur vor. Jetzt, wo sein Medikament langsam abgesetzt wird, geht er mit seiner Gesundheit und der Tabletteneinnahme sehr sorgfältig um. Er weiß viel über die verschiedenen Epilepsieerkrankungen. Als Eltern sind wir dankbarer für alles Gute in unserem Leben geworden. Nichts ist mehr so selbstverständlich, und wir haben gemerkt: auch auf krummen Wegen wandert es sich ausgesprochen gut. Unsere "lieben Kleinen" murmeln dazu nur: "Ist ja gut, passt scho!"
Barbara Lillge, Berlin